Ich kann mich noch gut an das Telefonat erinnern, das ich ein paar Wochen vor Ostern mit Chris führte. Wir hatten den Winter und die Kälte tierisch satt und träumten von einem Kurztrip an den Gardasee. Vielleicht an Ostern? Ein paar Tage vor Abfahrt checkte ich den Wetterbericht. Er sagte nichts gutes für die Gegend um den Gardasee voraus, was Chris und mir Sorgen bereitete. Aufgrund meiner überragenden geographischen und meteorologischen Kenntnisse fand ich heraus, dass wir besser weiter in den Osten Italiens fahren sollten, um von möglichst allen Seiten durch ein Gebirge vor Regenschauern geschützt zu sein. Chris erwähnte, dass er ja noch nie in Venedig gewesen sei. Die Sache war gebongt!
Tag 1: Schnee, Luxus, Discoabend
Chris, der sich noch kurz vor der Tour fast blauäugig eine rote Honda CB500 für die Tour in Ebay ersteigert hatte, ohne sie vorher Probe zu fahren, und ich fuhren am Morgen zu einer großen Tankstelle in der Nähe von München. Dort trafen wir auch unsere Kumpels, die im Jahre 2008 mit dabei gewesen waren. Doch leider konnten sie nicht mit, dem einen fehlte ein Motorrad, dem anderen die Zeit und wiederum andere Freunde zogen den Schwanz ein. Zu kalt sei es in Italien zu dieser Jahreszeit. Umso erfreuter begrüßten wir unseren Neuling, als er auf seiner Honda CBR 125 angerast kam: Schmoitzl, ein kleiner schmächtiger Kerl mit sehr wenig Sachen auf dem Gepäckträger und das nicht einmal richtig befestigt. Hätten wir ihn vielleicht doch besser vorbereiten sollen? Weiß der überhaupt, worauf er sich da eingelassen hat? Nachdem wir uns von unseren zurückgebliebenen Freunden herzlich verabschiedet hatten, bestiegen wir unsere Maschinen und steuerten direkt auf die Autobahn Richtung Österreich. Natürlich, Landstraßen sind schöner, aber so kalt wie es war, wollten wir nur schnell raus aus Deutschland. Nach einigen Kilometern auf der Dosenbahn bemerkte ich, dass ich anscheinend meinen Rucksack an der Tanke hatte stehen lassen. An einem Rastplatz hielten wir an und besprachen, wie wir nun vorgehen sollten. Es gab aber keine andere Lösung, als dass ich zurückfahren musste um ihn zu holen. Chris und Schmoitzl würden bis kurz vor die Grenze fahren und dann dort auf mich warten. So eine Scheiße, dass mir das zu unserem Tourbeginn passieren musste. Ich heizte über die Autobahn, holte meinen Rucksack und traf wie vereinbart auf einem Parkplatz kurz vor der Grenze meine zwei Tourkollegen, die sich schon etwas langweilten. Es half nichts, durch die Kritik musste ich jetzt durch. Nachdem auch ich eine kleine Pause abgehalten hatte, konnte es weiter gehen und wir stachen geradewegs nach Österreich rein. Gegen Mittag hielten wir an einem Supermarkt an, um ein bisschen was zu vespern. So zeigten wir gleich unserem Neuen, wie man gut und günstig ist: Brot und Wurst kaufen und direkt auf dem Parkplatz des Supermarktes essen. Ja, das macht eine Motorradtour eben aus, denn Prioritäten ändern sich: Das wichtigste ist, schnell voran zu kommen. Essen, ist nicht so wichtig. Leichte Magenverstimmnug bekam ich jedoch als eine elektronische Anzeigentafel 8° C anzeigte, aber wir waren noch lange nicht an der höchsten Stelle für heute. Der alte Brennerpass wird uns sicherlich noch richtig frieren lassen. Ich hatte echten Respekt vor der Passstraße und so zog ich nach der Stärkung meine Regenkleidung über. Ein bisschen hilft das schon noch, hoffentlich. Meine Erwartungen wurden aber bei Weitem übertroffen und ich musste während der Überquerung extrem zittern. Wir hatten höchstens Temperaturen um den Gefrierpunkt, was uns aber nicht davon abhielt so zu tun, als wären wir am warmen Strand. Abseits der Straßen lag eine dicke Schicht Schnee auf den Wiesen.
Nach der erfreulichen Abkühlung waren wir uns einig, dass wir Gas geben sollten um den Südhang zu erreichen. Da uns die Strecke schon bekannt war und Chris dieses Jahr erstmals mit einem Navi ausgestattet war, machten wir uns weniger Gedanken um Routenplanung und wir kamen am ersten Tag sehr zügig voran. Gegen Abend erreichten wir die kleine, aber durchaus bekannte Stadt Bozen. Der Road Captain gab mir wieder das berühmte Zeichen, so dass ich wusste was ich zu tun hatte: Schlafplatz suchen. In Bozen wählte ich willkürlich eine beliebige Straße, von der ich mir versprach, dass sie mich etwas außerhalb der Stadt führen würde. Nach der Stadtgrenze ging es einen Berg hoch, folglich hatte ich wiedermals Probleme ein ebenerdiges Grundstück mit Garten zu finden. Ich fragte dann bei einer Familie, der Mann konnte Deutsch, doch wimmelte mich gekonnt ab mit der Begründung, dass Camping und Unbekannte dem Hund gar nicht gefallen würde. Auch die Familie im Haus schräg gegenüber verneinte und zeigte auf den bellenden Vierbeiner. Und so ging das noch eine ganze Zeit weiter. Irgendwan war es an der Zeit einen Taktikwechsel einzuschlagen. Ich beschloss einen anderen "Ausgang" von Bozen zu anzeusteuern, um vielleicht eine andere Mentalität zu erwischen. Als wir also wieder die Stadtgrenze erreichten sah ich abermals einen niedlichen Garten und probierte es erneut. Zwei kleine Kinder spielten im Garten und deren lächelnde Mutter machte einen sympathischen Gesamteindruck. Die Frau näherte sich mir zum Gartenzaun. Zu meinem Glück verstand auch sie etwas Deutsch und schien gar nicht so abgeneigt. Sie ließ mich außen warten, ging ins Haus und telefonierte. Einen Augenblick später teilte sie mir dann jedoch mit, dass sie hier nicht die alleinige Mieterin sei und wir sollten doch in die Jugendherberge von Bozen gehen, koste ja auch nur 22€ pro Person. Uns fiel natürlich die Kinnlade herunter, wiegelten ab und gingen zurück zu den Motorrädern und berieten uns. Wir waren schon wieder auf den Bikes und wollten sie starten, da hörte ich die junge Mutter nach mir rufen. Mit wenig Motivation stiefelte ich zurück. Plötzlich war sie wie ausgewechselt und teilte uns mit, sie hätte riesengroße Sorgen um uns, dass wir nichts finden und wir würden ihr fast einen Gefallen tun, wenn wir doch in die Jugedherberge gehen würden. Gleichzeitig drückte sie mir 70€ in einem 50er- und einem 20er-Schein in die Hand und blickte mich bedauernd an. Ich wusste erst nicht wie ich reagieren sollte und fühlte die Scheine als auch ihre warme Hand in der meinigen. Ich drehte mich um und hoffte in Chris' Gesichtsausdruck herauslesen zu können, ob ich das Geld annehmen darf oder nicht. Doch auch unser allwissender Road Captain stand wie versteinert mit leerem Blcke hinter mir. Ich rechnete nach, 3 mal 22€ ... sie kriegt also 4€ von mir zurück. Als ich meinen Geldbeutel zückte klopfte sie mir auf die Schulter und sagte "lass sein, die 4€ sind mein Ostergeschenk an euch". Moment! Waren denn die 66€ kein Ostergeschenk? Chris ließ sich noch die genaue Adresse der Jugendherberge mitteilen und tippte sie in sein Navigationsgerät ein. Vor unserem noblem Schlafplatz angekommen, rissen wir die Helme runter und schrien uns vor Glück ersteinmal an, klatschten uns in die Hände, um dann grinsend durch die verglaste Sicherheitstür zu gehen. Wir bezahlten unser Zimmer und probierten sofort den Fahrstuhl in der neu renovierten Herberge aus. Im richtigen Stock angekommen hielten wir unsere Chipkarte an den Leser und die Tür zu unserem Reich öffnete sich automatisch. Perfekt, 4 Betten, alles modern und sauber und einen Balkon mit toller Aussicht. Doch die Glückssträhne sollte noch nicht abreißen. Zu unserer Überraschung befand sich im Erdgeschoss eine komplett ausgestatte Küche für die Gäste. Wir hatten uns vorher im Supermarkt mit Spaghetti Olio eingedeckt, was auch leicht auf dem Gaskocher zu machen gewesen wäre. Chris bereitete uns ein von öl- und knoblauchtriefendes Menu der Extraklasse zu, was wir unter neidischen Blicken der anderen im Aufenthaltsraum verspeisten. Auch Schmoitzl war jetzt sichtlich erleichtert und bemerkte, dass eben doch alles immer wieder gut wird, auch wenn es anfangs nicht so aussieht. Nach dem Abendessen zogen wir uns fein an und nutzten natürlich die Chance, die man hat, wenn man mal ausnahmsweise zentral in einer Stadt übernachtet: Let's go into a Disco! Draußen auf dem Marktplatz fragten wir ein paar Passanten nach guten Clubs. Ein stimmiges Gesamtpaket schien die Disco "Okay!" zu liefern. Dort angekommen mussten wir aber ernüchternd feststellen, dass um 1Uhr morgends noch kein Italiener das Tanzbein schwingt. Die Security versprach uns aber, dass es garantiert noch besser werden sollte. Wahrhaftig, gegen 2 Uhr war der kleine aber feine Club brechend voll und wir kamen sogar ab und an in Kontakt mit echten Italienern. Diese, wenn sie herausfanden, dass wir aus Deutschland kommen, spendierten uns umgehend einen Drink oder ließen uns von ihrem trinken. Es entstanden sehr schnell die berühmten Trinkfreundschaften und wir lobten uns gegenseitig für das Heimatland des anderen. Leicht angetrunken verließen wir in der Früh den Club und torkelten ausgelassen und voller Feierenergie zurück zu unserer Jugendherberge.
Tag 2: Zu Gast bei Italiens High-Society
Der nächste Morgen küsste uns mit warmen Sonnenstrahlen wach. Nach einem entspannten Frühstück, was im Preis enthalten war, rief uns wie immer die Pflicht. Auf die Moppeds und Gas geben. Die anfängliche Euphorie über das schöne Wetter, bezahlten wir aber spätestens mit dem Beginn des Karerpasses. Um jeden Meter, den wir erklommen, schien die Temperatur um 1°C zu sinken. Auf halber Höhe war der Wintersport sogar noch rege. Ich sah Leute ihre Skier aus dem Kofferraum eines Kombis ausladen, die uns lachend den Vogel zeigten, als wir zitternd an ihnen vorbeirauschten. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass mir der Mund unter dem Helm fast zufror. Wir hatten so eine Kälte in Italien nicht erwartet und waren wahrlich überrascht, den Karerpass mit Ski,- Snowboard- und Langläufern teilen zu müssen. Am Scheitel der doch sehr kurvigen und anspruchsvollen Straße verlangten unsere Hände, Füße und Beine nach einer Pause und einer heißen Tasse Schokolade. Chris hatte sogar Angst sein Motorrad auszumachen, weil sein Vergaser an der Honda CB500 sich ja nicht - wie bei mir zwischen den warmen Zylindern befindet, sondern außerhalb - und so könnte er zufrieren.
Nach einem angenehmen und wärmenden Aufenthalt in einem Restaurant fühlten wir uns stark genug, den Südhang des Karerpasses in Angriff zu nehmen. Doch der war zu unserer Freude bei Weitem nicht so kalt, wie die Auffahrt auf dem Nordhang. Sehr schnell wärmten uns die Sonnenstrahlen auf. Nur noch vereinzelt, in schattigen Gebieten, überquerte das Schmelzwasser die Straße. Und dieses war auch sehr, sehr gefährlich in Kurven, da der Hinterreifen auf extrem kalten Wasser auch mal wegrutschen kann. Trotzdem ließen wir uns den Spaß im Gebirge und den Kurven nicht verderben, denn schon bald sollten wir wieder auf ewig langen, geraden Straßen unterwegs sein. Kurz vor Venedig überquerten wir noch eine sehr eindrucksvolle Brücke. Danach stießen wir in das schnelllebige Getümmel bestehend aus wild umherfahrenden Bussen, Taxen und Rollern auf Venedigs Straßen. Wenn man immer gerade aus fährt und die teuren Parkhäuser außer Acht lässt, endet man automatisch auf einem großen Busparkplatz. Dort sahen wir auf den gelben Sperrstreifen einige Roller und Motorräder parken, weshalb wir davon ausgingen, dass auch wir unsere Zweiräder dort kostenlos abstellen können. Ein Venezianer bestätigte uns dies mit einem freundlichen Grinsen und einem "Daumen hoch". Nach dem Zufallsprinzip steuerten wir eine der Gassen an. Wir waren uns aber nicht sicher, ob wir so die Stadtmitte erreichen würden. Ich fragte einen dahergelaufenen Mann, der mir die Richtung anzeigte. Chris beschwerte sich bei mir, ich solle doch bitte nicht jede Gestalt anlabern. Ich würde das eines Tages mit einem Schlag auf die 12 böse bezahlen. Ich kommentierte das nur mit einem freundlichen Lächeln Wir erreichten die erste Fußgängerbrücke und somit die Romantik für die Venedig bekannt ist. Begeistert beobachteten wir ein Pärchen, das sich in der Fußgängerzone beinahe vor Liebe aufgefressen hätte. Vielleicht sollte einer den beiden ein Zimmer anbieten. Mal links, mal rechts erkundeten wir die kleinen Gassen, sahen die niedlichen Bote im Wasser und freuten uns über jede Brücke.
Trotz aller Schönheit der Stadt, trotz der unausweichlichen Romantik, passierte es wieder, was immer passiert, wenn wir Sehenswürdigkeiten betrachten: Wir waren mehr und mehr gelangweilt und das Interesse, wie der Tag heute enden würde, wo wir schlafen würden, war größer, als das Interesse eine weitere Gasse zu besichtigen. Wir hatten ja auch keine Ahnung, wo genau man entlang laufen muss, um vielleicht die wichtigsten Dinge anschauen zu können. Wir irrten dann mit Navigationsgerät zurück zu dem großen Busparkplatz und freuten uns, dass unsere Mopeds noch dort standen, ohne einen Strafzettel. Immerhin parkten wir auf einem Sperrstreifen! Wir bestiegen unsere Rösser und eierten durch den wilden Verkehr raus aus der Stadt, über die Brücke und ich wusste es ist mal wieder an der Zeit, meiner täglichen Verantwortung nach zu gehen. Schlafplatz suchen! Die meisten Dörfer, die wir durchfuhren, wirkten ersteinmal irgendwie unsympathisch und normalerweise ist es gut, wenn ich mich auf mein Bauchgefühl verlasse. Wir kamen irgendwann in besseres Gebiet (keine Ahnung, woran ich das festmache). Ich hielt an, fragte hier und da. Einmal "nein", einmal war keiner zu Hause. Zum Erstaunen der anderen, entdeckte ich einen vielversprechenden Feldweg, der uns noch weiter abseits der Hauptstraße bringen sollte. Je schlechter die Straße, umso pompöser die Häuser. Ich konnte Chris schon fast motzen hören, dass wir in dieser Umgebung ja sowieso nicht unterkämen. Vor einem Haus mit riesen Garten und Steinmauer drum herum hielt ich an. Wie zu erwarten schüttelte Chris seinen Kopf und rief hinterher "schaffst du hier eh nicht!" Ich klingelte ... warten. Eine Frau begegnete mir am Balkon. Ich fragte sie, ob sie denn Englisch sprechen könne. Daraufhin schrie sie mit italienischem Temperament "Filippo!". Ein großer, schlacksiger, langhaariger junger Mann trat in den Garten und bot sich mir zum Gespräch an. Ich hatte mein Anliegen noch nicht zu Ende gesprochen, wurden wir drei schon in den Garten gebeten. Ungläubig und sehr vorsichtig fuhren wir über den gepflegten Rasen, hinters Haus, wo sich eine Scheune befand. Ich sah den jungen Mann darin wild herumwühlen, Sachen umherwerfen. Sollte das etwa eine Garage für uns werden? Aber ja doch! Perfekt! Wir waren gerade dabei, unser Zelt aufzuschlagen, als uns Filippo anbot, im Gästezimmer zu schlafen. Die Freude war groß und mit einem fetten Grinsen zeigte ich Chris meinen Sieg. Wir packten unsere Sachen in das Gästezimmer und sofort wurden wir darauf aufmerskam gemacht, dass es gegen 19 Uhr Abendessen geben wird und wir herzlich dazu eingeladen seien.
Wir betraten den sehr stilvoll eingerichteten Wohn- und Essbereich und wurden zu einem Aperitif auf die Cocuh gebeten. Filippo übersetzte ersteinmal die wichtigsten Fragen seiner Eltern, seiner hübschen Freundin, seines Onkels und seiner Tante, die kleine, dickbusige, temperamentvolle vom Balkon. Nach dem ersten Kennenlernen wanderten wir vom Sofa zum Esstisch und die Mutter tischte gewaltig auf. Standardmäßig natürlich Spaghetti Bolognese. Einfacher kann man so viele Menschen nicht satt machen! Nach ein oder zwei Gläsern Rotwein entdeckte die Mutti ihre Liebe zu Schmoitzl. Immer wieder fuhr sie ihm durch die Haare, knuffte ihn an den Backen und nannte ihn "Piccolino". Heißt wohl so viel wie Süßer. Chris und ich meinten irgendwann einen bösen Gesichtsausdruck in ihrem Mann entdecken zu können, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Wir hatten eine sehr gute Unterhaltung, alle wurden sehr redselig. Auch aufgrund des selbst hergestellten Weines, bei dem keiner wusste, wie viel Alkoholprozent der genau hat. Wir erfuhren von Filippo, dass er freiberuflicher Künslter ist und dass die eindrucksvollen Bilder, die im Haus hingen, alle von ihm stammten. Das wundervolle Haus in dem sie wohnen, hatte sein Vater, Architekt, entworfen. Spätestens beim Gang zur Toilette, wenn man auf den Marmorfließen entlang rutschte, merkte man den Wohlstand der netten Familie, die sich an diesem Abend um keine Kosten scheute, den Gästen einen interessanten Abend zu bieten. Nach der Hauptspeise wurden Schinken, Salami und Käse serviert. Wir waren kurz vorm Platzen! Weil das aber noch nicht genug Gastfreundlichkeit war, schnitt die Mutter den Kuchen an, der eigentlich für Ostersonntag geplant war. Damit imponierte sie nicht nur ihrem Piccolino, sondern auch dem Rest der Anwesenden. Kurz bevor wir zu Bett gingen, erhielten wir noch den Hinweis, dass sich die komplette Familie am nächsten Tag zwischen 8 und 9 Uhr in der Kirche befinden wird. Wir sollten also nicht erschrecken, würden wir zu dieser Zeit aufstehen. Auf jeden Fall räumte man uns das Recht ein, so lange schlafen zu dürfen, wie wir möchten. Wir erhielten das absolute Vertrauen unserer Gastgeber. Großartig! Betrunken, satt und mit einem angenehm heimischen Willkommensgefühl stolperten wir in unser bequemes Schlafgemach.
Tag 3: Bozen von seiner schönsten Seite
Ich stand am nächsten Tag mit einem wirklich unangenehmen Gefühl auf und fragte den Onkel, ob ich mich "lavaggio" - also duschen dürfte. Ich hoffte das würde meinen Kreislauf in Schwung bringen. Außerdem war ich noch so übermaßig satt vom Vorabend! Die Familie geriet in Hektik, als sie merkte, dass wir allmählich wachen werden und riefen nach dem Sohn. Onkel und Tante überranten sich beinahe gegenseitig und deckten einen wahnsinnigen Frühstückstisch mit verschiedenen Brotsorten, Aufstrichen und Wurstarten, das wir aber leider gar nicht genießen konnten, weil wir uns noch so überfüllt fühlten. Anstandshalber musste man ja dennoch etwas essen. Der junge schlacksige, ständig gut gelaunte Italiener kam ins Zimmer geschossen und begrüßte uns mit "Hey Bikers!". Wir zitieren ihn heute noch gerne, denn siese lebensfrohe Art, die er an den Tag legte, beeindruckte uns aufs Neue. Die italienische Familie konnte nicht genau verstehen, warum wir, die wilden, ausgestoßenen Outlaws beim Essen nicht zugriffen. Filippo zuckte mit den Schultern und schmierte uns stattdessen dicke Lunchpakete, für jenes eines. Salami, Schinken, Käse und Ei bildeten eine unglaublich fiese Kombination, die uns später im Laufe des Tages das Wasser im Mund zusammen laufen lassen wird. Als es dann zur Verabschiedung überging, kamen der Mutter Tränen in die Augen und sie drückte uns, aber ganz besonders ihren Piccolino noch einmal ganz fest. Mehr oder weniger elegant wuchteten wir unseren dicken Ranzen auf die Sitzbank und starteten unsere Heimreise. Chris, unser Road Captain und Hardliner, schlug vor, nicht noch einmal den kalten Weg über den Pass zu wählen, sondern stattdessen die Autobahn durch tiefere Gegenden entlang zu brettern. "Brettern", soweit das mit Schmoitzl's 125er möglich war. Wir ließen ihn meistens nah in unserem Windschatten fahren, damit wir wenigstens mit 100 km/h der langweilig geraden Strecke folgten. An einem Rastplatz erzählte uns Chris, er hätte bei seiner letzten spontanen Italientour in Bozen in der Nähe eines Hotels ein schönes Stückchen Wiese entdeckt, wo wir nächtigen könnten, ohne wieder herumfragen zu müssen. Außerdem habe man einen schönen Blick auf die Stadt, da man sich auf einem Berg befinde. Gegen den Vorschlag war nichts einzuwenden, also suchten wir in Bozen nach jenem Hotel. Die Suche gestaltete sich äußerst schwierig, da Chris nicht einmal mehr den Stadtteil oder ähnliches in Erinnerung hatte. Wir irrten sehr lange umher, fragten Passanten, doch letztendlich sollte uns das alles nicht weiterhelfen, würde Chris nicht etwas Entscheidendes einfallen. Eigentlich war ich fast soweit, vorzuschlagen, die Suche abzubrechen, doch dann fanden wir das Hotel doch noch und konnten so die besagte Wiese betreten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, welches Glück uns dieser Ort bringen würde. Wir schlugen das Zelt auf und machten es uns bei einer Dose Ravioli und einer Flasche Wein auf flachen, großen Steinen in der Wiese gemütlich. Nebenher verfolgten wir mit einem Auge den wunderschönen Sonnenuntergang, während uns ein Lagerfeuer die Hände wärmte. Die Sonne tauchte rot-glühend hinter einen Berg und beleuchtete Bozen auf eine unglaublich inspirierende Art und Weise. Wieder einmal beteurten wir, dass unsere Touren die einzige Möglichkeit seien etwas wahrhaftiges, etwas spannendes zu erleben und dass wir ja so das bereiste Land viel besser kennen lernen würden, als in den Touristenzentren. Als es auf dem Berg komplett dunkel wurde, gingen in Bozen die Straßenlaternen an, Innenbeleuchtungen in Häusern und die Scheinwerfer von Autos ergaben abermals ein traumhaftes Bild, das sich leider nicht mit unseren Kameras einfangen ließ.
Als unser kleines Feuer merklich den Geist aufgab, hatten wir die verrückte Idee, in das Restaurant des Hotels zu gehen. Wer weiß was noch so passieren könnte? Zumindest würden wir es warm haben und könnten vielleicht eine weitere Flasche des guten, italienischen Weines abstauben. Mit zerzausten Haaren und mit vom Lagerfeuer stinkenden Klamotten betraten wir das noble Gasthaus. Es dauerte nicht lange, da fiel uns die junge, außergewöhnlich hübsche Bedienung auf. Wir kümmerten uns nicht weiter um unser abstoßendes Aussehen und bestellten bei ihr eine Flasche Wein. Als das Mädchen wieder kam, zeigte sie uns das Etikett und wartete ab, ob wir diese immer noch geöffnet haben wollen. Vor unseren Augen und sehr zielsicher schraubte sie den Korkenzieher in den Flaschenhals. Sie nahm ein Weinglas und schenkte dort ein Schlückchen hinein und wartete wieder ab, wer von uns sich zur Probe geeignet fühlt. Chris nahm ihr das Glas ab und sie verließ uns für eine Weile. Würde uns die Probe nicht schmecken, hätten wir immer noch die Chance gehabt, das sündhaft teure Weinprodukt abzulehnen und wütend den Saftladen zu verlassen. Als ich jedoch Chris' Grinsen nach der Probe sah, war mir klar, dass der letzte Abend und diese Flasche eine unzertrennbare Allianz bildeten. Die süße Bedienung kam wieder und wartete auf ein Zeichen, ob wir den Rotwein behalten möchten. Wir ließen sie einschenken, was sie gekonnt, unaufgeregt und ohne zu zittern meisterte. Mann war das eine Powerbraut, genau das richtige für drei harte Biker. Jeder von uns ließ sich nacheinander einen Apfel bringen. Der Trick war, sie so häufig wie möglich kommen zu lassen. Schmoitzl nahm die Kamera aus der Tasche und legte sie auf den Tisch, so dass die Linse in Richtung Bar zeigte. Als sie wieder einmal für uns kommen musste, drückte er etwa 20mal hintereinander auf den Auslöser, um ein paar schöne Spontanbilder von ihr zu erhaschen. Klar, sie bemerkte unser Vorhaben sofort. Doch anstatt uns mit italienischem Temperament aus dem Restaurant zu scheuchen, hatten wir das Gefühl, dass ihr der kleine Catwalk gefiel, der hier in ihrer wahrscheinlich sonst sehr tristen Arbeitsumgebung stattfand. Die kleine romantische Stadt Bozen hatte in vielerlei Hinsicht etwas zu bieten.
Tag 4: Königsfrühstück
Am nächsten Morgen bemerkte ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken. Etwas unangenehm war die Wiese mit den Steinen schon. Doch immerhin war es mir warm genug, im Gegensatz zu Schmoitzl, der zum ersten und letzten Mal auf dieser Tour in seinem 1,50m-Kinderschlafsack schlief und zitterte wie ein armer Schneider. Ich krabbelte aus dem Zelt, packte ein paar Sachen zusammen. Ich hatte so heftigen Hunger, dass ich mir eine Scheibe alten Toast hineinschob. Als Chris aus unserer Villa herauskroch, beschwerte er sich, dass ich nicht warten konnte. "Wir wollen doch immer gemeinsam essen", beklagte er. Da wussten wir noch gar nicht, welch großes Glück uns jetzt gleich erreichen wird. Ein Ehepaar kam joggend den Feldweg entlang. Der Mann erkundigte sich in perfektem Deutsch, was wir hier so machen, wo wir herkommen und wo es jetzt hingeht. Wir erzählten in kurzen Stichpunkten von unserer Hammerspontantour. Er wirkte beeindruckt, wünschte uns noch eine gute Reise und nahm das Laufen mit seiner Frau wieder auf. Wir packten gerade das Zelt zusammen, als etwa 5 Minuten später der Mann wieder zurück kam und uns doch tatsächlich fragte :"Jungs, ich hab mich grad mit meiner Frau unterhalten. Habt ihr vielleicht Lust auf Frühstück, bei uns?" Wie immer, wenn wir so viel Glück haben, drehte ich mich halb zu Chris um und versuchte in seinem Gesichtsausdruck erkennen zu können, ob das gerade wirklich passiert ist oder ob ich immer noch träume. Doch meine zwei Tourkollegen waren zuerst genauso sprachlos. Wir ließen uns die Adresse und deren Name mitteilen. Hektisch schnallten wir unser Gepäck notdürftig gesichert auf die Mopeds und eilten zu dem Haus, was sich etwa 5 Kilometer entfernt befinden sollte. Es war nicht leicht zu finden, aber zu übersehen war die prachtvolle Villa auch nicht. Zusätzlich war der Familienname mit weißen Steinen in die Hofeinfahrt geschrieben. Doch das war nicht der einzige Blickfang, auch die zwei teuren, neuen Sportwagen konnten überzeugen. Etwa zeitgleich kam ein junger Mann mit einer hübschen blonden Dame in einem neuen, weißen VW Touareg in die Hofeinfahrt gefahren. Wir erfuhren später, dass das der 19-jährige Sohn und seine Freundin waren. Wir durften bei der Familie auf der Terrasse Platz nehmen, die einen fantastischen Blick gerade bei Morgensonne bot. Der kleine 10-jährige Sohn übernahm sich beinahe, uns Gästen so schnell wie möglich einen Frühstückstisch zu decken. Ich hatte immer Angst, dass ihm gleich die Messer, die Teller oder Tassen aus der Hand gleiten würden. Die Frau des Mannes, der uns eingeladen hat, stammt aus den USA, war aber nicht die Mutter der zwei Söhne. Wir konnten uns mit ihr nur in Englisch unterhalten, was aber natürlich kein Problem war. Von dem Familienvater erfuhren wir, dass er Ingeneur sei und für Volkswagen bei dem indischen Autohersteller Tata arbeite. Ich erinnerte mich sofort, an eine Dokumentation über das indische Kleinauto Tata Nano, das nach seiner Veröffentlichung in aller Munde war. Endlich hatte ich die Chance, zu erfragen, warum man denn nicht plane, dieses kleine, sparsame Auto auch in Europa anzubieten. Seiner Meinung nach biete der europäische Markt keinen Platz für derart günstige Autos. Wer möchte denn schon heutzutage auf all die modernen Spielereien verzichten, obwohl man es sich doch leisten kann, deutsche luxuriöse Limousinen zu fahren? Außerdem würden ja heutzutage sowieso die meisten mit der Tankkarte der Firma bezahlen, also wer in Deutschland hätte Interesse an einem Tata Nano? Ehrlich gesagt empfand ich diese Einstellung etwas weltfremd, aber als ich dann wieder das atemberaubende Panorama im Blick hatte, wie sich die glühende Morgensonne über den Bergen emporhob, verschwanden jegliche Geld- und Zukunftssorgen. Die Welt war schön, friedlich und niemand hat Probleme!
Natürlich war der Ingeneur stolz auf seinen erwachsenen Sohn, der auf einer italienischen Eliteschule demnächst wahrscheinlich einen astreinen Abschluss machen wird, um dann auch einer Ingeneurslaufbahn nachzugehen. Sein Sohn spreche 3 Sprachen, Deutsch, Englisch und Italienisch. Ich war aber irgendwie sicher, dass dieser smarte Typ mit der hübschen, auch gebildeten und reichen Freundin bestimmt auch noch fließend Chinesisch spricht, was er aber nur so nebenher gelernt hat. Vielleicht kann er aber auch noch Spanisch. In dieser perfekten Familie war alles möglich! "Je mehr Sprachen du sprechen kannst ", legte er mir nahe "desto weniger wirst du in deinem Leben arbeiten müssen und mehr Geld verdienen". Da hatte sein Filius ja die besten Aussichten. Klar fiel es uns schwer, der netten Familie nach dem Frühstück mitzuteilen, dass wir sofort weiter müssen. Wir hatten ja noch etliche Kilometer inklusive dem Brennerpass zu schruppen. Wir verabschiedeten uns so höflich und dankbar wie wir nur konnten. Diese spontane Zusammenkunft und auch das Erfahren einer etwas anderen Weltanschauung haben uns sehr gut getan und bereicherten diesen Urlaub, der voller Überraschungen steckte, ebenso wie all die anderen tollen Dinge, die wir bisher erlebten. Das sollte uns hoffentlich Kraft geben für die eiskalte Überquerung des alten Brennerpasses. Auf halber Höhe wurde es klirrend kalt, ich meine kälter und windiger wie bei der Hinfahrt. Ich war wieder gezwungen mir meine Regenkleidung über zu ziehen, was diesmal gar nicht helfen sollte. Schon gar nicht, als uns die Wolken einen Streich spielten und Schneeregen abließen. Trotz Regenkleidung flossen hier und da eiskalte Tropfen am Nacken oder an den Handgelänken vorbei und nahmen mir das restliche Bisschen Wärme. Am Schaitelpunkt, also nach dem Grenzübergang zu Österreich hielten wir an der Tankstelle an und wärmten uns ein bisschen auf bei einem Becher Kaffee. Nachdem das Motorrad zu günstigen Preisen vollgetankt war, ging die Zitterpartie weiter. Als wir in Deutschland zwar wieder in tieferen Gebieten unterwegs waren, wurde der Schneeregen weniger, desto mehr normaler Regen prasselte auf uns ein und ließ uns nicht wohl fühlen. Die Straßen waren nass, kalt und sehr rutschig. Wir konnten also auf der deutschen Autobahn nicht Gas geben. 100 km vor unserem Ziel war eine zweite Pause noch einmal nötig, sonst wären wir erfroren. Wir steuerten einen McDonald's an und wärmten uns für etwa eine halbe Stunde auf und trockneten die wichtigsten Stellen mit jede Menge Papier von der Toilette und Servietten. Hey, was war das nur für ein beschissenes Ende unserer Tour, so hatten wir doch ein wunderschönes Osterwochenende und brachten einige tolle, aber auch ein paar nicht so schöne Erfahrungen mit nach Hause. Diese Tour wurde vorher von uns fast nicht geplant, und trotzdem hatten wir wieder einmal eine geniale Zeit im wunderschönen und warmen Italien und lernten wundervolle Leute kennen, die abermals bereit waren uns aufzunehmen, Essen zu geben oder uns anderweitig weiter zu helfen. Dabei profitierten nicht nur wir, sondern auch unsere Gastgeber, die merklich Freude daran hatten, etwas zu geben, anstatt zu nehmen.